RND Redaktionsnetzwerk Deutschland – 18.02.2023

RND Redaktionsnetzwerk Deutschland – 18.02.2023

with Keine Kommentare

Armut ist mehr als die Angst um Nahrung, Wohnraum und Kleidung. Arm zu sein bedeutet auch: Scham, Ausgrenzung und Eintönigkeit. Kulturelle Tafeln vermitteln kostenlose Tickets für Theater, Oper oder Konzerte an Bedürftige – und schaffen so Momente des Glücks. Denn auch die Seele kann hungern. Wie die von Vera Kramer.  

(von Imre Grimm)

Ein Abend im kleinen Theater Combinale in Lübeck. Die Bühne ist erleuchtet, die Zuschauer kichern und klatschen. Zu sehen ist das Stück „Viereinhalb Sterne“, die humorige Geschichte einer zankenden Familie. Man spielt Federball, giftet sich an, hadert und versöhnt sich doch. Für die meisten der 116 Menschen auf den blauen Plüschsesseln ist diese Vorstellung ein harmloser zweistündiger Zeitvertreib. Für eine Besucherin jedoch geht es in diesem Saal um sehr viel mehr: Vera Kramer erlebt an diesem Abend ihre Rückkehr in die Welt.

Ein tief verschüttetes Gefühl habe sie damals, vor vier Jahren, ergriffen, sagt sie heute: „Es war das Gefühl, wieder wirklich dazuzugehören.“ Vera Kramer ist 46 Jahre alt. Sie war Sozialpädagogin, Mediengestalterin, Qi-Gong-Lehrerin. Doch seit 25 Jahren leidet sie an einer Muskel- und Knochenkrankheit. Zwischenzeitlich saß sie im Rollstuhl, lief dann an Krücken. Heute bekommt sie eine winzige Erwerbsminderungsrente. Sie hat eine jahrelange zermürbende Odyssee hinter sich – ein „diagnostischer Wirrwarr“ zwischen medizinischem Dienst, Krankenkasse, Arbeitsamt, Anwalt, Behörden, Paragrafen, in dessen Verlauf sie sich selbst verloren ging. Es folgten: finanzieller Abstieg, Einsamkeit, Not. „Man wird zum Menschenfeind in so einer Zeit“, sagt sie und rührt im Kaffee. „Man bekommt nichts, aber auch gar nichts geschenkt.“

Bis zu jenem Tag, als Kramer bei der Lebensmitteltafel eine Broschüre der Kulturellen Tafel in Lübeck sah – einem Verein, der unverkaufte Eintrittskarten für Theater, Kino, Konzerte oder Lesungen an Menschen mit wenig Geld vermittelt. Vera Kramer meldete sich an. Zögerlich, argwöhnisch – wie ein „geprügelter Hund, der noch zusammenzuckt, wenn eine offene Hand sich nähert“. Denn sie wollte niemals bedürftig sein, hasst Almosen, sie will der Gesellschaft nicht auf der Tasche liegen. Aber als sie dann, nach vielen Jahren, zum ersten Mal wieder Theaterkarten in den Händen hielt, musste sie weinen.

Deutschland diskutiert über Armut. Die Inflation frisst die Einkommen. Millionen verzweifeln. Margarine ist 27,4 Prozent teurer geworden als im vergangenen Jahr, Milch und Eier 35 Prozent. Die nackte Existenzangst, die am unteren Rand der Gesellschaf seit Jahrzehnten Alltag ist, hat spätestens zu Beginn diese Winters auch Teile der Mittelschicht erfasst. Mehr als 900 Lebensmitteltafeln lindern die ärgste Versorgungsnot, und sie erleben einen nie gekannten Zulauf. Doch nicht nur der Körper leidet. Auch die Seele kann hungern. Kulturelle Tafeln aber gibt es erst in rund 30 Städten, zusammengeschlossen in der Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe (BVKT). Der Deutsche Städtetag hat 3200 Mitglieder. „Muße und Wohlleben sind unerlässliche Voraussetzungen aller Kultur“, schrieb Autor Max Frisch. Aber ohne Wohlleben keine Kultur. Und Armut bedroht fast immer auch den Reichtum der Seele.

Viel zu lange galt Kultur als lässlicher Luxus der Gesellschaft – nett zu haben, aber nicht lebenswichtig. In besseren Zeiten zeigt man seine staatlich subventionierten Schmuckkästchen gern vor, in der Krise sind die Kulturetats mit die ersten, denen es an den Kragen geht. In der Pandemie blieb die Branche lange im Regen stehen. Die Politik sah den Nachweis ihrer Systemrelevanz fälschlicherweise nicht erbracht. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht längst klargestellt, dass es bei der Grundversorgung um mehr geht als Essen und Wohnen. Der Mensch „als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“, heißt es. Menschen müssen atmen, essen, trinken, schlafen. Dann bleibt ihr Körper am Leben. Doch auch Geist und Seele haben Bedürfnisse.

Wer jedoch kaum Zugang zu Kulturangeboten mit positiven Vorbildern hat, vergisst, was eine Biografie bieten kann. Er verliert, wie Vera Kramer, schleichend das Bewusstsein dafür, dass eine andere Existenz überhaupt möglich ist. Er verliert den Anspruch an das eigene Leben. Auf materielle Armut folgen fast immer auch soziale und kulturelle. Die Forderung nach Kultur für alle ist ein jahrzehntealter kulturpolitischer Klassiker. In der Realität aber bleiben hohe Hürden: Scham, Angst, Stolz. Und vor allem natürlich: Geldmangel. Der Regelsatz für Freizeit, Unterhaltung und Kultur beim neuen Bürgergeld liegt bei 48,98 Euro im Monat. Für Bildung sind genau 1,81 Euro vorgesehen. Ein Euro einundachtzig. Für einen Monat.

Vera Kramer kommt aus der gehobenen Mittelschicht. Ihre Familie lebte lange im Ausland – „und meine Eltern haben mich als Kind in jede Oper und jedes Theaterstück gezerrt. Kultur gehörte zu unserem Leben damals. So bin ich geprägt. Kultur ist für mich wichtig, sie ist sogar essenziell nötig. Fast so wichtig wie Essen.“ Doch dann: der kulturelle Strömungsabriss. Sie hat einen Comic mitgebracht. Der soll erklären, was Kunst für sie bedeutet: „Kunst“, heißt es darin, „ist jede menschliche Aktivität, die nicht aus einem unserer beiden Hauptinstinkte entsteht – dem Fortpflanzungs- oder dem Selbsterhaltungstrieb.“ Menschen seien eben auch geistige Wesen, sagt Kramer. „Wir sind nicht nur dazu da, die Welt zu verheizen und Spaß zu haben. Es geht auch um Sinn und Entwicklung.“

„Ich hatte immer die Hoffnung, dass ich wieder werde“, sagt die 46-Jährige. „Und habe mir das Leben ein bisschen anders zurechtgeträumt.“ Viele Jahre habe sie in großer Isolation gelebt, hatte kaum Außenkontakte. „Deshalb waren die Corona-Lockdowns für mich Peanuts. Das habe ich auf einer Arschbacke abgesessen, das kenne ich viel massiver. Eine Zeit lang geht das in Ordnung, aber ich brauche die menschliche Vernetzung.“

Die biografische Entwicklung ist das eine. Doch fast noch wichtiger ist die soziale Teilhabe. „Wenn man einmal rausfällt aus dieser Gesellschaft, erlebt man am eigenen Leib, was es bedeutet, nicht mehr dazuzugehören“, sagt Kramer. „Die Isolation ist sehr bitter und schwer zu ertragen.“ 16 Veranstaltungen hat sie bisher besucht, etwa eine im Vierteljahr. „Es tut unglaublich gut für das Selbstbewusstsein.“ Oder wie es der Frankfurter Verein Kultur für alle in einem Leitsatz formuliert: „Kultur ist nicht exklusiv, Kultur ist inklusiv.“ Ideen gibt es viele. In Osnabrück etwa begleiten Kulturlotsen Menschen mit sprachlichen, körperlichen oder sonstigen Hemmnissen in Konzerte und Shows.

„Wir sind nicht nur dazu da, die Welt zu verheizen und Spaß zu haben. Es geht auch um Sinn und Entwicklung.“

Vera Kramer, Teilnehmerin der KulturTafel in Lübeck

„Vielen unserer Gäste geht es um das Gefühl, eingeladen und erwünscht zu sein“, sagt Kristine Goddemeyer. Denn „hinter jeder Anmeldung steckt ein Schicksal, eine unverschuldete Not. Das sucht  sich niemand aus.“ Sie gründete Anfang 2017 die Kulturelle Tafel Lübeck. „Ich konnte kaum glauben, dass es das noch nicht gab.“ Rund 6000 Karten pro Jahr vermittelt sie inzwischen an derzeit 2000 Menschen aus der Region, Tendenz steigend. Bis auf die Vermittlung entstehen keine Kosten. Niemand erleidet einen Verlust. Im Gegenteil: „Auch Schauspieler und Musiker sind froh, denn wir füllen freie Sitze!“ Darauf nehmen auch Menschen Platz, die bisher keinerlei Berührung mit Kulturveranstaltungen hatten. „Das allererste Konzert, das wir vermittelt haben, war ein Lautenkonzert“, erzählt Goddemeyer. „Da sagte ein Herr: ‚Nein danke, das ist mir zu laut.‘ Da mussten wir erst mal erklären, was eine Laute ist.“

130 Kulturveranstalter in Lübeck spenden unverkaufte Tickets, dazu kommen Sponsoren und Sozialpartner. Die komplexe Datenbank dahinter hat ehrenamtlich ein früherer Softwareentwickler programmiert, der für eine Datingplattform gearbeitet hat. Heute ist er in Berlin im Ruhestand. „Die Datenbank filtert Mitglieder heraus, die am längsten kein Angebot wahrgenommen haben. So ist Fairness gewährleistet“, sagt Goddemeyer. Es ist ein Netzwerk des guten Willens. Die Interessenten selbst melden sich beim Verein an, nennen ihre Vorlieben – Oper, Kabarett, Literatur, Musik – und weisen dort ihren Anspruch nach. Teilnehmen dürfen unter anderem alle, die arbeitslos sind, Bürgergeld beziehen, Wohngeld oder Kinderzuschlag oder nur eine sehr kleine Rente bekommen. An der Abendkasse nennen sie dann nur noch ihren Namen. Kein Nachweis der Not. Kein Ausweis oder Bekenntnis. Kein Stigma. Stattdessen: Prinzip Gästeliste.

„Menschen mit wenig Geld sind nicht sozial schwach. Sie sind wirtschaftlich schwach. Oft sind eher die wirtschaftlich Starken die sozial Schwachen.“

Hagen Rether, Kabarettist

Heute finanziert die Lübecker Possehl-Stiftung Goddemeyers 50-Prozent-Stelle, sieben ehrenamtliche Helferinnen telefonieren mit den Gästen. Es gibt immer zwei Karten pro Person. Denn die Gäste dürfen jemanden einladen. „Für sehr viele Menschen mit wenig Geld ist das Geben können oft wichtiger als das Nehmen“, sagt Goddemeyer. „Jemandem etwas Gutes tun zu können – das ist eine große Sache.“ Oder wie der Kabarettist Hagen Rether mal gesagt hat: „Menschen mit wenig Geld sind nicht sozial schwach. Sie sind wirtschaftlich schwach. Oft sind eher die wirtschaftlich Starken die sozial Schwachen.“

Wie groß die Sehnsucht so vieler nach einem unbeschwerten Abend ist, nach kollektivem Weinen, Schwärmen, Genießen und Lachen, zeigen die überwältigend dankbaren Reaktionen: Kultur sei für sie „Balsam für die Seele“, schreiben Besucher an Goddemeyer. Sie sei „Urlaub vom Alltag“, ein „Stimmungsaufheller“, „Seelenfutter, Nervennahrung und Impulsgeber“ und „ein wertvoller Ausgleich im Kampf mit meiner Krankheit“. „Ohne Kultur verkümmert die Seele“, schrieb eine Besucherin. „Man schämt sich so“, sagt eine Besucherin. Nun habe sie „richtig wieder am Leben teilgenommen“. „Als wir zu unseren Plätzen gegangen sind, dachte ich, wir sind verkehrt abgebogen“, schrieb eine andere. „Ich saß noch nie im Leben so dicht an einer Bühne. Es war einfach das Beste, was ich seit Langem erlebt habe.“ Im Kern, hieß es außerdem, gehe es darum, „mich mal wieder wie ein Mensch zu fühlen“.

So geht es auch Evelyn Baumgärtel mit ihrem Sohn Levin (10). Die alleinerziehende Mutter bezieht Bürgergeld – und sagt: „Mir ist es so wichtig, meinem Sohn Kultur nahezubringen. Wenn er in jungen Jahren nicht mit Kultur in Berührung kommt, ist das ein Verlust, den er später nicht mehr aufholen kann. Später soll er dann selbst entscheiden, was er daraus macht.“ Außerdem könne Levin „in der Schule endlich mal mitreden, wenn andere von ihren Freizeitaktivitäten berichten, und hat auch was zu erzählen“. Kultur biete für sie „Möglichkeiten, sich zu bereichern und seine Fühler auszustrecken: Wo will ich hin? Was will ich sein?“

„Kultur beflügelt – das erlebe ich jeden Tag von Neuem“, sagt auch der international bekannte schwedische Jazzposaunist Nils Landgren. Der 67-Jährige ist Botschafter der Kulturtafel Lübeck. Am Ende macht vor allem das den Wert der Idee aus: die Erkenntnis, dass die eigene Existenz, und sei sie noch so sehr in Not, jeder Seelenpflege wert ist. „Durch die Kulturtafel habe ich mich wieder als Teil der Gesellschaft gefühlt“, schrieb jüngst ein Gast. „Endlich!!! Das wollte ich dann auch in jeder Hinsicht wieder und habe es jetzt endlich geschafft, einen Job zu finden. Ich danke Ihnen sehr für alles! Sie sind mein persönlicher Antrieb gewesen.“ Kultur als Impuls zur Aufwertung des eigenen Lebens – es ist die ideale Wirkung.

„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“ Schrieb vor gut 200 Jahren einer, dessen Werk wie kein zweites geeignet ist, den Menschen an seine eigenen Möglichkeiten zu erinnern: Johann Wolfgang von Goethe. Es geht eben nicht nur um Brot und Milch. Das ist auch der Kern einer Anekdote, die Rainer Maria Rilke zugeschrieben wird: Der Dichter lebte Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris, wo er in Begleitung einer jungen Französin Tag für Tag am Stammplatz einer Bettlerin vorbeikam, die um Geld bat. Rilke gab niemals etwas, seine Bekannte dagegen schon. Auf die Frage, warum er niemals spendete, soll Rilke geantwortet haben, dass man nicht der Hand der fremden Frau, sondern besser ihrem Herzen spenden möge. Tags darauf brachte er eine frisch erblühte Rose mit und übergab sie der Bettlerin. Sie sah die Blume an, sah dem Dichter ins Gesicht, stand auf und ging davon. Tagelang ließ sie sich nicht mehr blicken. Wovon, fragte sich die junge Französin, habe die Frau wohl in all der Zeit gelebt, in der sie keine Almosen bekam? Rilkes Antwort: „Von der Rose.“

Was sind kulturelle Tafeln?

Der Begriff Tafel ist eng an Lebensmittel geknüpft: mehr als 900 Tafeln in Deutschland verteilen kostenlos Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs an bedürftige Menschen. Die Tafeln retten im Jahr rund 265.000 Tonnen Lebensmittel und geben sie an etwa zwei Millionen Menschen weiter. Die kulturellen Tafeln dagegen vermitteln kostenlose Eintrittskarten für Kulturveranstaltungen an Menschen, die sie sich nicht leisten können. Das Prinzip: Menschen mit geringem Einkommen melden sich beim Verein an, geben ihre persönlichen Interessen an (wie Oper, Konzert, Comedy, Kindertheater) und erhalten Tickets, die Kulturveranstalter gespendet haben. Rund 30 dieser Vereine haben sich bisher im Bundesverband kulturelle Teilhabe zusammengeschlossen. Sie tragen außer KulturTafel auch Namen wie Kulturöffner (Bielefeld), Kulturloge (Dresden), Kulturwunsch (Freiburg), Kultür (Potsdam, Regensburg) oder Kulturleben (Hamburg, Hildesheim, Leipzig, Berlin). Zu finden sind sie im Netz unter www.kulturelleteilhabe.de. Die Mitgliedschaft bei einer kulturellen Tafel hat keinen Einfluss auf andere Zuschüsse für Bildung, Kultur oder Freizeitgestaltung wie etwa die staatlichen Leistungen für Bildung und Teilhabe (BuT), auch Bildungspaket genannt. Hier sind 15 Euro pro Monat für Musikunterricht, Museumsbesuche und „gemeinschaftliche Aktivitäten kultureller Bildung“ vorgesehen.

www.rnd.de