Futter für junge Geister.
Meist gilt: Wer sich keine Tickets leisten kann, bleibt vom kulturellen Leben ausgeschlossen. Um daran etwas zu ändern, vermittelt die Lübecker KulturTafel kostenlose Eintrittskarten – und startet nun ein Projekt, das sich an Kinder und Familien richtet.
Über eine Mauer wehen fußballgroße Seifenblasen. Kurz darauf zerplatzen sie bei ihrer Landung und hinterlassen kleine Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster der Lübecker Altstadtinsel. Passanten bleiben einen Moment stehen und gehen dann lächelnd weiter. Woher die Flugobjekte an diesem sonnigen Freitagnachmittag stammen? Hinter einer Metallpforte stellt sich heraus: von Kathrin und ihrem Sohn Kai, die im Innenhof vor ihrem Mehrfamilienhaus auf das Reporter-Team warten.
Die 48- und der 9-Jährige, die eigentlich anders heißen, sind regelmäßige Gäste der lokalen KulturTafel – und davon wollen sie berichten. Warum? »Weil es eine super Sache ist«, sagt Kathrin, die jetzt im Innenhof Plätze auf Plastikstühlen anbietet. Dazwischen wuselt Hündin Lotti herum; während des Interviews hindert Frauchen ihren Pinscher-Mix mehrfach daran, ein Loch in eine unversiegelte Stelle zu graben. Kathrin ist gelernte Erzieherin. Derzeit könne sie nicht arbeiten, sagt sie, da sie alleinerziehend sei und Kai einen besonderen Betreuungsbedarf habe. Und auch als sie zwischenzeitlich eine Anstellung hatte, habe sie nie genug verdient, um sich Kulturveranstaltungen leisten zu können.
»Dadurch kann er auf dem Schulhof mitreden«
Genau deshalb wandte sie sich an die KulturTafel Lübeck. Seit 2017 vermittelt der Verein Tickets für Kinoabende, Theaterstücke, Zirkusaufführungen und Co. an Menschen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Wie Kathrin, die schon seit vielen Jahren dabei ist. Bisher galt bereits das Prinzip, dass die Gäste gemeinsam mit ihren Kindern ein Event besuchen dürfen – in diesem Jahr startete die KulturTafel jedoch ein weiteres Projekt, das sich ausdrücklich an 3- bis 12-Jährige richtet: die KulturKinder. Kathrin meldete ihren Sohn dafür an, damit er zum Beispiel ins Theater geht: »Dadurch kann er auf dem Schulhof mitreden.«
Kulturelle Bildung ist wichtig, sie steht in der Bedürfnispyramide aber eher nicht ganz oben. Zumindest hinter »Kühlschrank gefüllt« und »Miete gezahlt«. »Kulturveranstaltungen fallen bei vielen Menschen mit wenig Geld als Erstes weg«, sagt Kristine Goddemeyer. Die 42-Jährige ist Gründerin und Geschäftsführerin der KulturTafel Lübeck. Ihr Büro befindet sich ebenfalls auf der Altstadtinsel; in der Wahmstraße 87, wenige Hausnummern neben der »Zentralen Beratungsstelle für Männer« der Diakonie Nord Nord Ost. Dem Ort also, wo die Verkäuferinnen und Verkäufer unseres Straßenmagazins aus der Hansestadt sowie dem Umland jeden Monat ihre aktuelle HEMPELSAusgabe erhalten.
KulturTafeln gibt es in mehreren Städten Schleswig-Holsteins – teils unter anderen Bezeichnungen, in Kiel etwa als KulturHafen. Grob gesagt sind sie das, worauf ihr Name hindeutet: ein kulturelles Pendant der Lebensmitteltafeln. Bloß dass es nicht um Nahrung für den Körper geht, sondern um Futter für den Geist. Und das läuft so: Karten für Kulturevents, die sonst mangels Käuferin oder Käufer ungenutzt verfallen würden, bekommen Menschen, die sie nicht selbst bezahlen könnten. Weil sie zum Beispiel auf Bürger- oder Wohngeld angewiesen sind, weil sie Geflüchtete sind oder Rentner mit Grundsicherung. Beim Veranstalter werden die Tickets dann hinterlegt. »Man muss nur seinen Namen sagen – und nicht, dass man von der KulturTafel kommt«, sagt Kathrin. »Ich habe mich überall als Gast wohlgefühlt.«
In Lübeck ist die Nachfrage groß – und zugleich das Angebot. Das zeigt ein Blick auf die Zahlen: Circa 2.500 Gäste sind hier bei der KulturTafel angemeldet, etwa 130 Partnerorganisationen spenden dem Verein Eintrittskarten und dieser vermittelt davon zwischen 6.000 und 7.000 pro Jahr. Ein Vorteil für die Veranstalter: keine leeren Ränge. Und im Falle der KulturKinder gibt es noch einen weiteren, wie Kristine Goddemeyer sagt: »Nachwuchspublikum wächst heran.«
»Viele Gäste berichten uns, dass Armut einsam macht.«
Gefördert wird das Projekt zugunsten junger Menschen von der Possehl-Stiftung sowie der Hansestadt Lübeck, die Schirmherrschaft hat Kinderbuchautorin Margit Auer übernommen. Geschäftsführerin Goddemeyer zufolge laufe es »total gut an, fast täglich bekommen wir neue Anmeldungen«. Angesichts des aktuellen Berichts zur sozialen Situation von Kindern und Jugendlichen in Schleswig-Holstein ist das Interesse wenig überraschend: Aus diesem geht hervor, dass landesweit jedes fünfte Kind unterhalb der Armutsgrenze lebt, in Städten wie Lübeck sogar jedes vierte.
Was Kathrin und Kai schon besucht haben? Ein Kunstfestival und eine Zirkusvorstellung, ein Puppentheater sowie ein Theaterstück auf einer Freilichtbühne – und noch viel mehr, erzählen sie. »Das hat großen Spaß gemacht«, sagt Kai. Ein wichtiger Aspekt dabei: Gäste der KulturTafel Lübeck bekommen stets zwei Tickets, und bei den KulturKindern erhält sogar jedes Familienmitglied eine Karte. »Wenn ich mal kinderfrei habe, gehe ich gerne mit einer Freundin oder meiner erwachsenen Tochter auf ein Konzert«, sagt Kathrin. Seit dem Start des Projekts kann auch Kai Schulfreunde mitnehmen. Und nicht nur das: Er kann sie zu einem Ausflug einladen.
»Viele Gäste berichten uns, dass Armut einsam macht«, sagt Kristine Goddemeyer. Wenn man öfter Unternehmungen absagen muss, weil dafür das Geld fehlt, werde man irgendwann erst gar nicht mehr gefragt, ob man mitkommen möchte. Zudem stärken die gemeinsamen Erlebnisse das Familienleben: »Sie haben dann etwas, worüber sie noch lange sprechen oder gemeinsam lachen können.« Kathrin stimmt ihr zu: »Das tut uns als Familie echt gut! Ich weiß total zu schätzen, dass es dieses Angebot gibt.« Laut Kristine Goddemeyer hätten viele Gäste nur aufgrund der KulturTafel die Chance, einfach mal etwas auszuprobieren. Zum Beispiel in die Kinderoper zu gehen. »Das hätten sie wahrscheinlich nicht gemacht, wenn sie sich den Eintritt vom Mund absparen müssen. Dann leistet man sich nur Kultur, die einem sicher gefällt. Wenn überhaupt.«
Ob Kai sich nach all den inzwischen besuchten Veranstaltungen vorstellen kann, später selbst im Bereich »Kultur« zu arbeiten? Mit einer für einen Grundschüler bemerkenswerten Entschiedenheit sagt er: »Nein, ich habe eigene Träume und möchte Schmied werden. Oder Goldschmied.« Und zum Schluss noch eine Frage, die sich seit Beginn des Interviews aufdrängt: Was hat es eigentlich mit den Seifenblasen auf sich? »Auf Festivals trete ich damit für Kinder auf«, sagt Kathrin, die ein Festival-Shirt und mehrere Festival-Armbänder trägt. Für ihren Einsatz bekommen sie und ihr Sohn freien Eintritt plus freie Verpflegung vor Ort. »So können wir Festivals außerhalb von Lübeck besuchen, die für uns sonst zu teuer wären.« Innerhalb der Hansestadt unterstützt sie dabei ja die KulturTafel.
Während Kathrin und Kai noch einmal fußballgroße Exemplare als Probeflüge in Richtung Kopfsteinpflasterstraße starten lassen, nutzt Hündin Lotti den unbeobachteten Moment: für einen weiteren – erfolglosen – Versuch, ein Loch zu graben. Und eine Nachbarin öffnet ihr Fenster im ersten Stock. Eigentlich wolle sie schon ganz lange bei der KulturTafel mitmachen, sagt sie; Kathrin habe ihr so viel Gutes darüber erzählt. Kristine Goddemeyer erklärt ihr, wie sie sich anmelden kann und legt ihr einen Flyer auf den Tisch im Innenhof. Und Kathrin ruft nach oben: »Endlich! Du hast es dir verdient.«
TEXT: GEORG MEGGERS, FOTOS: TILMAN KÖNEKE