Stormaner Tageblatt – 02.05.2020

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Die Fußmatte wird zur Konzert-Bühne

Die Kultur-Tafel Lübeck bietet kulturelle Hausbesuche an – Türschwellenkonzerte in der Hansestadt

LÜBECK Bei Anruf Konzert, genau gesagt: Türschwellenkonzert. Die Kultur-Tafel Lübeck begeht am heutigen 2. Mai ihren dritten Geburtstag. Kristine Goddemeyer, Gründerin und Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins, hätte das gerne offensiver gefeiert, doch die aktuellen Abstandsgebote in Zeiten der Corona-Krise gelten für das kleine Jubiläum ebenso wie für die Theateraufführungen, Konzerte, Lesungen, die die Tafel Menschen zugänglich macht, die sich kulturelle Genüsse sonst nicht leisten könnten. Brach liegt die Arbeit allerdings nicht: Aus gegebenem Anlass kommt die Musik vorerst zu den Menschen.

Der Schritt in die digitale Welt liegt in diesen Wochen nahe, und wie viele andere Institutionen hat den auch die Kultur-Tafel gemacht. Neun Tage im April las der Schauspieler Rainer Rudloff den Wolfgang-Herrndorf-Roman „Tschick“ exklusiv im Live-Stream für die Tafel-Gäste. Doch eine Frage stand im ehrenamtlichen Team um Kristine Goddemeyer im Raum: „Was ist mit den – vor allem älteren – Menschen, die solche Angebote nicht erreichen?“ Und so wurde die Idee der Türschwellenkonzerte geboren.

„Wir bieten kulturelle Hausbesuche an, für die bei uns angemeldete Gäste zu Hause von einer Musikerin oder einem Musiker besucht erden“, erklärt die Geschäftsführerin. „Die Fußmatte wird so zur Bühne. Der Gast bleibt dabei in seiner Wohnung – der Mindestabstand wird also gewahrt – und erlebt ein zirka zehnminütiges Konzert im Hausflur, ein Türschwellenkonzert exklusiv für ihn!“ Auf Wunsch ist ein Klappstuhl für den Gast inklusive. Den Anfang machte die Saxofonistin Henrike Jonak. Auch ein Gitarrist, eine Fagottistin, eine Klarinettistin zeigten sich sogleich bereit für ehrenamtliche Auftritte. „Abgesehen von dem kulturellen Genuss ist dies ein ganz wichtiges Zeichen für die ,digital Abgeschnittenen‘ in unserer Bevölkerung: Auch sie werden in dieser Zeit wahrgenommen und nicht vergessen“, sagt Kristine Goddemeyer und spricht vom „Futter für die Seele“. Sie ist zuversichtlich, dass die Tafel ihren Gästen damit durch die Krise helfen kann.

Wie wichtig denen die Teilhabe an der kulturellen Vielfalt ist, machen die Rückmeldungen deutlich. „Ich beziehe Grundsicherung und war kulturell einfach abgehängt, richtig ,kalt gestellt‘ habe ich mich in dieser Hinsicht gefühlt, denn ich bin kulturell sehr interessiert“, hat eine 57-Jährige der Kultur-Tafel gerade geschrieben. „Das letzte Konzert in der Aegidienkirche war wunderschön. Es wurden ausschließlich Werke von Bach gespielt. Hervorragend! Das fehlt mir jetzt natürlich sehr, aber es geht ja nun schließlich im Moment allen so. Da müssen wir jetzt einfach durch! Ich freue mich aber schon, wenn Sie sich hoffentlich bald wieder bei mir melden. Ihre Einrichtung ist einfach toll.“ Eine alleinerziehende Mutter, die von Hartz IV lebt, berichtet von Besuchen im Figurentheater und im Zirkus: „Das war richtig toll. Da denken wir jetzt viel dran. Und ein absolutes Highlight war natürlich der Circus Roncalli, zu dem sie uns eingeladen haben. Mein Sohn
konnte endlich mal mitreden! Können Sie sich vorstellen, was das meinem Sohn bedeutet hat? Das ist in Worten kaum zu beschreiben.“

Das Wissen um die mächtige Bedeutung von Kunst und Kultur war es, das Pate gestanden hat, als am 2. Mai 2017 die Kultur-Tafel Lübeck an den Start ging. „Das vielfältige Kulturangebot unserer Stadt für alle Menschen zu öffnen“, heißt das Ziel des eingetragenen Vereins, der seither Eintrittskarten zu kulturellen Veranstaltungen an Bedürftige vermittelt, die hier „Gäste“ genannt werden und die die Angebote begeistert annehmen. Geschäftsführerin Goddemeyer zählt inzwischen mehr als 2000 angemeldete Kultur-Gäste, auch soziale Einrichtungen wie etwa die Lübecker Aidshilfe, die Frauenhäuser Lübecks, die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen der Vorwerker Diakonie und andere nehmen die Angebote wahr. „Wir haben bis dato knapp 13.000 Karten vermittelt“, sagt sie, „und wir zählen 126 Kulturpartner, die uns regelmäßig, mehrmals oder einmalig Karten gespendet haben.“

Der Weg zum Kulturgenuss für alle ist denkbar leicht zu gehen: Interessierte melden sich unter Vorlage eines Einkommensnachweises und unter Angabe ihrer kulturellen Vorlieben bei der Tafel an. Letztere werden mit Angeboten der teilnehmenden Kultureinrichtungen, die nicht verkaufte Tickets zur Verfügung stellen, abgeglichen und im besten Fall erfolgt die telefonische Mitteilung, dass sowohl ein Ticket für den angemeldeten Gast als auch für eine Begleitung an der Abendkasse bereit liegt. Drauf zahlt dabei niemand. Im Gegenteil, es profitieren auch die Kulturhäuser von der Kultur-Tafel-Idee, denn kein Künstler möchte vor schlecht gefüllten Sälen spielen oder möchte die Freude an Musik, Schauspiel, Malerei, Literatur abreißen lassen.

Wie sehr man Kultur vermissen kann, erleben derzeit alle. „Die Kultur-Tafel holt die Menschen wirklich aus der Isolation heraus. Für mich ist so wichtig, dass ich durch euch endlich wieder das Gefühl habe, dazuzugehören“, schreibt ein 68 Jahre alter Gast, und: „Ich denke jetzt noch total oft an den letzten schönen Abend zurück: ein Sinfoniekonzert. Dass mir Klassik gefällt, hätte ich nie gedacht. Aber ich habe es durch euch ausprobiert – und siehe da: Das fetzt!“ (von Karin Lubowski)

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