NDR – 10.10.2021

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Theatertickets statt Antidepressiva – Kultur für die Psyche.

Forschungen zeigen: Kultur kann bei der Therapie gegen Depressionen helfen. Der Lübecker Verein Kulturtafel e.V. hilft denen, die sich nicht viel leisten können – mit gratis Eintrittskarten.

Ein schicker Theaterbesuch, ins Kino gehen, auf ein Konzert oder in eine Kunstausstellung: Kultur ist unterhaltsam, inspirierend, auch mal irritierend oder verstörend. Kunst und kulturelle Veranstaltungen sind jedoch mehr als nette Freizeitbeschäftigungen. Kultur kann helfen, psychisch stabil zu bleiben – sogar, psychische Erkrankungen zu überwinden.

Klassik: Balsam für die Seele

Ob im Theater Lübeck oder in der Elbphilharmonie: Melanie Baumann liebt klassische Konzerte. „Ich kann sie richtig fühlen, mich komplett darauf einlassen“, sagt die 44-Jährige, „für mich ist das ist Balsam für die Seele.“ Sie heißt eigentlich anders – und möchte anonym bleiben, weil es ihr nicht gut geht. Zum einen finanziell: Seit einigen Jahren bekommt sie Hartz IV. Lange war sie arbeitslos, ist froh, mittlerweile einen Job zu haben. Aufstocken muss sie allerdings nach wie vor. Obendrauf kommt eine Krebserkrankung. „Ständig die Sorgen um anstehende Operationen, man fühlt sich die ganze Zeit wie gedeckelt, hat immer im Hinterkopf: Da war doch was.“

Wichtig, sich auf etwas freuen zu können

Unterkriegen lässt sich Melanie Baumann von alledem nicht – sie wirkt fröhlich und selbstbewusst. Kulturelle Veranstaltungen, vor allem Konzerte, sind eine wichtige Kraftquelle für sie. Sie braucht die Ablenkung vom anstrengenden Alltag: „Man hübscht sich auf, darf sich auf etwas freuen – eine wahre Wohltat.“ Die Tickets dafür könnte sie sich gar nicht leisten, als Kundin des Lübecker Vereins Kulturtafel e.V. wird sie auf die Veranstaltungen eingeladen. Dafür ist Melanie Baumann jedes Mal aufs Neue dankbar.

Lübecker Kulturtafel: Tickets für die, die sich Kultur nicht leisten können

Der Verein verschenkt nicht verkaufte Tickets für Kulturveranstaltungen an Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Wer sich für die Kulturtafel als Gast anmeldet, wird von Ehrenamtlern des Vereins angerufen und eingeladen, sobald Tickets zur Verfügung stehen. Leiterin Kristine Goddemeyer bekommt immer wieder Rückmeldungen von Gästen, dass ihnen die Veranstaltungen gut tun. „Sie können wieder an der Gesellschaft teilnehmen, kommen aus der Isolation heraus, fühlen sich wertgeschätzt, erleben mal etwas Schönes.“ Gerade, wer arbeitslos ist, arbeitsunfähig wird und so in die Armut rutscht, sei psychisch oft besonders belastet und habe Kultur besonders nötig, sagt Kristine Goddemeyer.

Veranstaltungen: Für Menschen mit psychischen Problemen oft eine Herausforderung

Kultur kann regelrecht therapeutisch wirken, sagt Martina Grotkopp. Die Sozialpädagogin hat lange im Lübecker Universitätsklinikum (UKSH) mit Menschen gearbeitet, die Depressionen hatten. In Kooperation mit der Kulturtafel hat sie Patientengruppen immer mal wieder auf kulturelle Veranstaltungen geschickt. Für viele Menschen mit psychischen Problemen sei es sehr anstrengend, ein Konzert oder Theaterstück zu besuchen. „Viele müssten sich regelrecht zwingen, die Isolation zu verlassen“, sagt Martina Grotkopp. Viele fühlten sich unter Menschen unwohl und fehl am Platz. Wer trotz alledem bis zum Schlussakkord oder bis zum Applaus am Ende bleibt, habe etwas geschafft. Das stärkt das oft geringe Selbstwertgefühl der Betroffenen – ein kleiner Schritt zurück in Richtung Normalität.

Wissenschaftlich erforscht: Kultur stärkt die Seele

Den britischen Forscherinnen Daisy Fancourt und Urszula Tymoszuk zufolge wirkt Kultur sogar präventiv gegen Depressionen. 2018 haben die beiden Wissenschaftlerinnen in einer Langzeitstudie erforscht, wie sich regelmäßige Kulturveranstaltungen auf die psychische Stabilität auswirken. Dafür haben sie rund 2.100 über 50-Jährige untersucht. Ihr Ergebnis: Wer mindestens einmal im Monat eine Ausstellung besucht, ins Kino oder Theater geht, hat ein halb so hohes Depressionsrisiko wie die Menschen der Vergleichsgruppe, die seltener ausgehen.

Schwerer Stoff oder leichtes Lustspiel? Beides kann guttun

Kristine Goddemeyer von der Kulturtafel hat die Erfahrung gemacht, dass manche Gäste abwinken, wenn sie Tickets für ein dramatisches Theaterstück oder melancholische Kinofilme im Angebot hat: „Gäste, die an einer Depression erkrankt sind, wollen manchmal nichts, was sie noch mehr herunterzieht.“ Die Lübecker Psychotherapeutin Hanna Petersen hingegen sieht auch in schweren Stoffen einen heilenden Effekt, manche Menschen könnten sich gerade darin aufgehoben fühlen. „Kultur zeigt ja auch die Abgründe, die Schwachheiten, die Schattenseiten, da fühlt man sich dann nicht mehr so allein.“ (von Astrid Wulf)

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