Vom Segen der Kultur
Martina Römer-Schaper kann dank der Lübecker Kulturtafel wieder ins Konzert gehen – für sie ein großes Glück
// Lübeck. Im Sommer waren Götz Alsmann und Omar Sosa auf der Freilichtbühne in Eutin, später auch Max Mutzke. Martina Römer-Schaper war dabei, jedenfalls so halb. Sie saß draußen im Park auf einer Bank. Eine Karte konnte sie sich nicht leisten.
Es ist überhaupt lange her, dass sie sich ein Konzertticket gekauft hat. Irgendwann ging das nicht mehr. Es musste anderes bezahlt werden. Die Kin- der wurden größer, das Geld knapper, schließlich kam die Krankheit. Es hat sie aus der Bahn geworfen. Ob es irgend- wann besser wird? Sie weiß es nicht. Sie ist 57 jetzt, wohnt in Eutin und hat Erwerbsminderungsrente beantragt.
Sie ist in einem Bereich gelandet, den sie „am unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter“ nennt. Aber ins Konzert geht sie trotzdem wieder. Seit März vergangenen Jahres tut sie das, möglich gemacht durch die Lübecker Kulturtafel. Die vergibt kostenlos Karten an Menschen, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Es ist ein Segen, sagt sie. Vor allem für jemanden, für den Kultur immer dazugehört hat.
Kirchenchor, Madrigalchor, Jazz und Funk
Sie ist im Ruhrgebiet groß geworden, hat im Kirchenchor gesungen, im Madrigalchor auf dem Gymnasium, hat zu Jazz und Funk gefunden, dazu vor allem. Sie war viel unterwegs, auf Konzerten, in Jazzclubs, hat in einer Disco gekellnert und gehofft, dass sich der DJ für sie interessiert. Sie ging ins Djäzz in Duisburg, ins Domizil in Dortmund, „gibt’s heute noch“. Sie ging ins Frontpage in Düsseldorf, dessen Besitzer Frank Sinatra über alles liebte, und hat Astrud Gilberto in Dortmund gesehen. Sie mochte Al Jarreau und Chaka Khan und erinnert sich vor allem an ein Konzert der Jazzkantine mit ihrem ältesten Sohn. 14 war er da und wegen eines gebrochenen Knöchels auf Krücken unterwegs. Aber er ging so mit, dass die Band ihn auf die Bühne holte. Oder an Joja Wendt, bei dem sie in der ersten Reihe saßen und ihr Sohn auf dessen Jacke aufpassen durfte, den ganzen Abend. Sie mag Jazz, wenn er Groove hat und in Bewegung ist, aber auch ruhigere Sachen.
„Jazz“, sagt sie, „ist Lebenselixier.“ Sie hat immer viel gelesen, Geschichte, Medizin, Hirnforschung, Psychologie, Sachbücher vor allem. „Ich habe in Büchern gewohnt.“ Aber Lesen ist derzeit wegen Konzentrationsproblemen schwierig. Sie schätzt Museen, Ausstellungen, Theater. Sie mag eigentlich alles in der Kultur, die ganze Bandbreite, die ganze, unglaubliche Palette. Nur mit Schlager kann sie nichts anfangen.
Sie war mit der Kulturtafel auf Jazzkonzerten im Lübecker LiveCV. Sie war beim Orgelkonzert, bei der GO.GRØØN-Messe in der MuK, beim Superkunstfestival, bei der Lübecker Museumsnacht, beim Tanztheater im Domhof. Sie ging zur Kasse, sagte ihren Namen und bekam die reservierte Karte. Sie ging allein oder mit Begleitung und schaute, dass sie nach dem Konzert noch einen Zug erwischte zurück nach Eutin. Und wenn sie nach Hause fuhr, war da etwas in ihr in Bewegung geraten, was sie durch die nächste Zeit tragen würde. Das ist nicht das Schlechteste, was man von Kultur sagen kann. Im Grunde kann man kaum mehr von ihr erwarten. Und vor allem war da auch ein Gefühl, dazuzugehören. Das geht leicht verloren, wenn man sich Konzertkarten nicht leisten kann. Wenn man draußen zu bleiben hat und nicht weiß, wie einem geschieht. Wenn die Zweifel größer werden und man irgendwann keine Antwort mehr hat auf die Frage, ob man nicht vielleicht zu Recht vor der Tür bleiben muss. Da kann man sich zurückziehen und verabschieden von der Welt da draußen, von dem, was man Leben nennt.
„Nur weil ich kein Geld habe, heißt das nicht, dass ich intellektuell nicht so gut aufgestellt bin.“
Martina Römer-Schaper
Die Karten der Tafel sind daher auch Eintrittskarten zurück in dieses Leben. Und es kann jeden treffen, sagt die Tafel-Geschäftsführerin Kristine Goddemeyer. Die mehr als 2000 Menschen in ihrer Kartei seien ein Querschnitt durch die Bevölkerung. Einer Depression sei es egal, ob jemand einen Doktortitel habe oder nicht. Kultur und die Teilhabe an ihr aber könnten einem wieder Boden unter den Füßen verschaffen. So wie dem Mann, der sich von der Tafel abmeldete, weil er durch die Veranstaltungen wieder Mut gefasst und einen Job gefunden hatte. „Ihr wart der Motor!“, schrieb er. „Ihr habt mich wieder in die Gesellschaft gebracht.“ Das NDR Elbphilharmonieorchester lässt auf seine Tickets für die Kulturtafel „Ehrenkarte“ drucken.
Martina Römer-Schaper hat Arzthelferin gelernt, im Krankenhaus gearbeitet, in der Praxis, im Labor. Sie hat sich zur Musikpädagogin fortgebildet und ihre beiden Söhne fast alleine groß gezogen. Sie sind erwachsen inzwischen. Ihr Ältester lebt in Berlin, hat im Bundesjazzorchester gespielt, ist Jazzpianist und komponiert. Der Jüngste wohnt in Wien.
Es wurde viel geübt bei ihr zu Hause, sagt sie. Der Saxofonist Max Boehm war da, sein Kollege Mark Doffey und andere Kommilitonen ihres Sohnes. Heute spielen sie nicht mehr in ihrem Wohnzimmer, sondern in Hamburger Clubs, und sie würde sie gern mal sehen. Aber Hamburg ist schwierig, wenn man spät noch von Lübeck nach Eutin muss und der letzte Zug um Mitternacht fährt.
Kultur fällt wie ein Licht in trübe Tage
Also ist sie noch nicht in Hamburg gewesen, seit sie 2019 in den Norden zog, wo sie noch einmal durchstarten wollte, aber von der Krankheit ausgebremst wurde. Kulturerlebnisse fallen da wie ein Licht in trübe Tage. Eine „Krafttankstelle“, sei das, sagt sie. „Krankheit sieht man einem Menschen ja nicht unbedingt an. Dann bekommt man auch schon mal ,Simulant’ zu hören, ,Schmarotzer’. Das trifft mich natürlich, weil ich gar nicht so bin. Im Gegenteil. Ich hatte immer mehrere Jobs auf einmal.“ Sie sei immer ein Leistungsmensch gewesen. „Aber wenn das nicht mehr möglich ist, hadert man mit seinem Schicksal und fragt sich: Ist das jetzt mein neues Ich, oder ändert sich das noch mal?“
Ein Leben ohne Kultur kann sie sich jedenfalls nicht vorstellen. Aber seit sie bei der Tafel ist, geht es ihr besser. „Ich habe mich wirklich völlig nutzlos gefühlt“, sagt sie. „Wie ein Underdog. Weil ich gar nichts mehr konnte außer spazieren gehen und Rad fahren, was natürlich auch sehr schön ist. Aber nur weil ich kein Geld habe, heißt das nicht, dass ich intellektuell nicht so gut aufgestellt bin. Der Mensch lebt ja nicht vom Brot allein. Man muss auch Futter für die Seele oder den Geist haben. Wenn das nicht wäre – wär’ ja schlimm.“ Und wenn man sie fragt, wen sie von all den Jazzheiligen gern mal wieder sehen möchte, sagt sie: „Alle.“ Und lacht. (Von Peter Intelmann)