Evangelische Zeitung – 09.06.2024

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Kinder brauchen Geschichten. Lübecker Projekt ermöglicht einkommensschwachen Familien Besuche bei Kulturveranstaltungen

Ob Theater, Oper, Zirkus oder Museen – seit Anfang Mai gibt es in Lübeck das Projekt KulturKinder. Einkommensschwache Familien erhalten so die Möglichkeit, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Die Nachfrage ist groß.

Lübeck. Einmal der Konferenz der Tiere lauschen. Durch den Märchenwald streifen. Oder sich auf die Spur der Urzeithaie begeben. An Geschichten und Abenteuern mangelt es auf Lübecks Bühnen und Museen nicht. Doch nicht jede Familie kann sich einen Besuch leisten. „Wir haben das Projekt KulturKinder ins Leben gerufen, um gezielt einkommensschwachen Familien den Besuch von Kulturveranstaltungen zu ermöglichen“, sagt Kristine Goddemeyer, Geschäftsführerin der Kulturtafel Lübeck. In Schleswig-Holstein lebt jedes fünfte Kind unterhalb der Armutsgrenze – in Lübeck ist es sogar jedes vierte.

„Kinder brauchen Geschichten, um andere Welten zu entdecken, andere Perspektiven auf das Leben zu bekommen und sich so überhaupt einen anderen Lebensweg vorzustellen“, sagt Goddemeyer. Außerdem wollen Kinder dazugehören. Goddemeyer erzählt von einer Mutter, die so glücklich darüber gewesen sei, dass ihr Sohn in der Schule endlich mitreden konnte, als der Zirkus in der Stadt war. Einen Besuch hätte sie sich selbst nicht leisten können. Tickets erhielt sie von der Kulturtafel.

Die existiert in Lübeck seit 2017. Nicht verkaufte Eintrittskarten werden – analog dem Prinzip der ‚Tafel‘ – an Menschen mit knappem Budget weitergegeben. Dadurch wird ihnen kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, die in Deutschland immer noch überdurchschnittlich stark vom sozialen Status abhängt. Mit KulturKinder gibt es nun ein Angebot explizit für einkommensschwache Familien mit Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren. Schirmherrin des Projekts ist Margit Auer, Autorin der „Schule der magischen Tiere“.

„Fast täglich trudeln Anfragen von Familien bei uns ein“, berichtet Goddemeyer. Hat eine Familie keine Zeit, wird versucht, eine Alternative zu finden. „Wir haben einen IT-ler in unserem Team, der uns eine Software programmiert hat, die heraussucht, welche Familie am längsten keine Veranstaltung besucht hat“, erklärt Goddemeyer. Sie und ihr Team rufen dann die Familien an, erklären und beantworten Fragen. „Muss ich mich sehr schick machen?“ „Muss ich in der Pause ein Getränk kaufen?“ „Ich gehöre doch eigentlich gar nicht dahin …“ Da sind Menschen, die bislang kaum Berührungen mit Theater und Kunst hatten. Andere sind irgendwann in die Armut gerutscht und konnten sich plötzlich den Luxus von Eintrittskarten nicht mehr leisten. „Kulturelle Veranstaltungen sind ein Posten, den man am schnellsten streicht, wenn das Geld knapp wird“, so Goddemeyer.

Ob ein Besuch in der Kunsthalle oder im St.-Annen-Museum, Workshops, Kinderoper, Zirkus, die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg oder Theater: „Wir bilden alles ab“, sagt Goddemeyer. Und das Projekt sei nicht nur auf Lübecker Familien beschränkt. Entscheidend ist die Bedürftigkeit, die nachgewiesen werden muss. So kann gegenüber den Veranstaltern nachgewiesen werden, dass die Karten dorthin gehen, wo sie benötigt werden. „Eine Mutter erzählte mir, wie lange sie und ihr Sohn noch von den Besuchen zehren. Sie hätten Gesprächsstoff losgelöst von Alltagsdingen.“ So komme Leichtigkeit zurück. Die Vorfreude auf die Veranstaltungen, später die Erinnerungen. Wenn Kristine Goddemeyer erzählt, merkt man schnell, wie sehr ihr gerade dieser Kontakt zu den Menschen am Herzen liegt. Die Kulturtafel und mit ihr die KulturKinder sind mehr als eine reine Kartenvermittlung. Viele der Menschen, die im Büro Wahmstraße anrufen oder dort vorbeikommen, kennt sie inzwischen, weiß um Vorlieben, kennt Schicksale und Geschichten. Immer wieder kommen Gäste nach einer Veranstaltung zu ihr, bedanken sich und erzählen. (von Johanna Tyrell)

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