Hempels – 09/2020

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Kulturhappen

Wer wenig Geld hat, ist oft vom kulturellen Leben ausgeschlossen. Daran wollen mehrere Kulturtafeln in Schleswig-Holstein etwas ändern. Ein Besuch in Lübeck

Dass er als Rentner nur Grundsicherung bekommt, keine eigene Wohnung hat und in einem Wohnheim übernachtet – darüber verliert Rudi nicht viele Worte. Schnell hakt er seine Lebensumstände ab. Sie scheinen ihm nicht unangenehm zu sein, doch findet er ein anderes Thmea viel spannender: Schlagermusik.

Über Schlagerstars wie Drafi Deutscher oder Wolfgang Petry plaudert der 71-jährige Lübecker wie über alte Weggefährten. »Ich war in meinem Leben schon auf über hundert Konzerten!« Sein bisher letztes: Vicky Leandros. »Ein absolutes Highlight, ich bin Riesenfan.« Beim Auftritt der Sängerin in Lübeck war Rudi einer von rund 2000 Besuchern. Selbst hätte er sich das Ticket nicht leisten können, sagt er. Trotzdem hatte er eines – vermittelt von der Kulturtafel Lübeck.

Kulturtafeln gibt es in mehreren Städten Schleswig-Holsteins. Ihr Konzept gleicht jenem der Essenstafeln, nur dass es nicht um Nahrung für den Körper geht, sondern um Futter für den Geist: Karten für Kulturveranstaltungen, die sonst ungenutzt verfallen würden, bekommen Menschen, die sie nicht selbst bezahlen könnten. Kulturtafeln verschaffen so gesellschaftliche Teilhabe, sie offerieren sozusagen und im besten Sinne Kulturhappen. »Auch Menschen ohne viel Geld sollen sich als gleichwertiger Teil unserer Gesellschaft fühlen. Und dazu gehört, dass sie auch mal ins Theater oder auf ein Konzert gehen können«, sagt Kristine Goddemeyer, Geschäftsführerin der Lübecker Kulturtafel. Zusammen mit fünf ehrenamtlichen Helfern vermittelt sie kostenlos Karten an ALG-II-Empfänger, Familien mit geringem Einkommen, Geflüchtete, Alleinerziehende oder Rentner
mit Grundsicherung – so wie Rudi. Sie mussten sich anmelden und nachweisen, dass sie bedürftig sind. Die ältesten Teilnehmer sind fast 90, die jüngsten gerade volljährig. Und auch Kinder können über ihre Eltern Tickets bekommen. Zudem erhalten soziale Einrichtungen wie Frauenhäuser Eintrittskarten für Gruppenausflüge.

Die Tickets stammen von über 120 Theatern, Kinos, Museen und anderen Veranstaltern, mit denen die Kulturtafel Lübeck zusammenarbeitet: Sie wurden nicht verkauft oder von ihren Käufern zurückgegeben und daraufhin der Kulturtafel gespendet. Fast überall, wo Kristine Goddemeyer das Konzept der Kulturtafel vorgestellt hat, lief sie »offene Türen ein – einige Veranstalter haben uns sogar Karten gespendet, bevor wir sie fragen konnten. Sie hatten von uns gehört und wollten uns unterstützen.«

Zusammen mit Rudi sitzt Kristine Goddemeyer im wenige Quadratmeter großen Kulturtafel-Büro, das sich im Erdgeschoss eines weiß gestrichenen Hauses auf der Lübecker Altstadtinsel befindet. Heute ist Rudi extra für den Interview-Termin mit seinem Fahrrad gekommen, aber auch sonst schaue er öfter mal spontan vorbei, sagt er. Die Ausgaben der Kulturtafel – etwa für Kristine Goddemeyers Stelle, die Büromiete oder Werbeflyer, werden von der Lübecker Possehl-Stiftung sowie über Spenden finanziert. 2017 hat Kristine Goddemeyer die Kulturtafel Lübeck gegründet.

Zuvor war sie Geschäftsführerin des Mahnmals St. Nikolai in Hamburg. Wenn dort bei Veranstaltungen Tickets nicht verkauft wurden, bekam die Hamburger Kulturtafel diese Karten. »So lernte ich das Kulturtafel-Konzept kennen – und fand es super!« Als die heute 38-Jährige dann mit ihrer Familie zurück in ihre Heimatstadt zog, erkundigte sie sich nach einer Lübecker Kulturtafel. »Und weil es die nicht gab, dachte ich mir: Gründe sie doch einfach selbst!« Seither hat die Kulturtafel Lübeck über 12.000 Eintrittskarten an etwa 2.000 Frauen und Männer vermittelt.

Und wie gelangt eine Karte wie die für das Vicky-Leandros-Konzert zu einem Teilnehmer wie Rudi? Zunächst melden die Veranstalter der Kulturtafel, welche Karten sie spenden. Anschließend errechnet ein Computerprogramm, wer noch nie oder länger keine Karte bekommen hat. »Der Algorithmus entscheidet das fair«, sagt Kristine Goddemeyer. Die Ehrenamtlichen rufen dann bei den Angemeldeten an: »Wir laden sie persönlich ein, damit sie sich wirklich willkommen fühlen – und nicht wie Gäste zweiter Klasse.«
Die Teilnehmer können angeben, wofür sie sich besonders interessieren: Theater oder Museum, Jazz oder Pop, Kabarett oder Kino. Rudi hat alles angekreuzt – und schon über 20 Veranstaltungen mit Karten der Kulturtafel besucht: »Am liebsten sind mir natürlich Schlager-Konzerte, aber ich bin ein aufgeschlossener Mensch. Neulich war ich auf einer Vernissage, das war auch gut.«

Kristine Goddemeyer und Rudi gehen nun vom Kulturtafel-Büro am Elbe-Lübeck-Kanal entlang zum »Kolosseum«, einem Konzertsaal, in dem Rudi oft zu Gast war. Auf dem Weg erzählt er von Schlager-Stars und Konzertbesuchen. Doch dann auch davon, dass er früher Einzelhandels- und Bürokaufmann war, einige Jahre auch arbeitslos. Und dass er drei Kneipen geleitet hat, in denen er Diskjockey auflegte: »Schlager vor allem, na klar.« Damals konnte er sich Konzerttickets noch selbst leisten. »Nur mit Grundsicherung geht das nicht mehr. Ohne die Kulturtafel hätte ich deshalb schon viele schöne Abende verpasst. Toll, dass es sie gibt!«

Die meisten Events besucht Rudi gemeinsam mit einer Bekannten, seiner »Kumpeline«, wie er sie nennt. Auf Wunsch bekommen alle Kulturtafel-Teilnehmer eine zweite Karte. Kristine Goddemeyer sagt: »Zu zweit macht es mehr Spaß, und viele möchten das Erlebnis mit jemandem teilen – das wollen wir ermöglichen!«

Wem sie das zweite Ticket schenken, dürfen die Angemeldeten frei entscheiden; die Beschenkten müssen nicht bedürftig sein. Einige Teilnehmer trauen sich zudem nicht alleine auf Veranstaltungen. »Einmal fragte mich eine Frau, was sie in der Pause eines Theaterstücks bloß alleine machen solle. Eine Begleitperson nimmt die Angst, sich vielleicht falsch zu verhalten.«

Als Rudi und Kristine Goddemeyer den Konzertsaal des »Kolosseums« betreten, sind alle Zuschauerplätze unbesetzt. Gespielt wird trotzdem: Auf der Bühne findet die Generalprobe einer Big Band und eines Orchesters statt, Rudi klappt einen der blauen Sitze herunter und setzt sich. Gefällt ihm die Musik? Er nickt. Würden Schlager-Hits gespielt, hätte Rudi wohl mehr als nur genickt, denkt der HEMPELS-Reporter. Trotzdem würde Rudi auch zum Konzert der Big Band und des Orchesters gehen, sollte der Kulturtafel-Algorithmus ihn auswählen: »Wäre spannend zu sehen, was dann anders läuft als bei der Probe.«

Rudi wirkt selbstbewusst. Man merkt ihm an, dass er sich im Konzertsaal auskennt und wohlfühlt. »Ich erzähle immer allen, dass ich von der Kulturtafel komme – so mache ich Werbung für sie«, sagt er und lacht. »Damit ist Rudi allerdings eine Ausnahme: Vielen unserer Teilnehmer ist es sehr unangenehm, dass sie sich selbst kein Ticket leisten können«, sagt Kristine Goddemeyer. Deshalb werden die gespendeten Karten persönlich für sie an der Abendkasse hinterlegt: »Im Kino oder Theater müssen sie nur ihren Namen
sagen, der auf der Gästeliste steht – und nicht, dass sie von der Kulturtafel kommen.« Auch ihre Bedürftigkeit müssen sie bei keinem Veranstalter mehr nachweisen.

Als wir den Konzertsaal verlassen, schnappt sich Rudi noch einige Veranstaltungs-Flyer aus einem Ständer im Foyer. Dann zeigt er auf sein klingelndes Handy und wendet sich zum Telefonieren ab. Ein Bekannter war das – der wolle ihm bei der Wohnungssuche helfen, sagt er ein paar Minuten später. Und: »Hoffentlich habe ich bald wieder eine eigene Wohnung!« Dann wechselt er wieder zu seinem Lieblingsthema: Schlagermusik. »Ich bin immer ganz gespannt, wenn ich auf meinem Handy einen Anruf der Kulturtafel sehe«, sagt er. Und über welche Nachricht würde sich Rudi dann am meisten freuen? »Wenn Wolfgang Petry wieder Konzerte spielt und es eine Karte für mich gibt – das wäre ein Traum! Freunde sagen, dass ich mit meinem Bart und meiner Frisur so aussehe wie er früher. Aber das ist nur Zufall, ehrlich.«

»Total schön, dass wir unsere Gäste wieder einladen können«, sagt Kristine Goddemeyer, Leiterin der Lübecker Kulturtafel. Monatelang wurden aufgrund der Corona-Pandemie Veranstaltungen abgesagt. »Für unsere Gäste eine schwere Zeit: Viele haben von großer Einsamkeit erzählt.« Die HEMPELS-Reportage entstand bereits unmittelbar vor der Krise. Ende Juni konnte die Kulturtafel wieder erste Tickets vergeben – allerdings weniger als vor dem Lockdown, da bei allen Kulturveranstaltungen weniger Besucher zugelassen sind. Seit Beginn der Krise und weiterhin bringt die Kulturtafel zudem Kultur zu den Menschen: Erst durch Privatkonzerte im Treppenhaus, jetzt durch Konzerte auf öffentlichen Plätzen in Stadtteilen, in denen viele Kulturtafel-Gäste wohnen. Tafelnutzer Rudi, Protagonist unserer Geschichte, hat seit der Krise noch keine Karte vermittelt bekommen. »Er scharrt mit den Hufen – die Zeit ohne Events hat er als sehr düster empfunden«, sagt Kristine Goddemeyer. Und Rudi ist weiterhin auf Wohnungssuche, die Pandemie hat das erschwert.

TEXT: GEORG MEGGERS, FOTOS: HOLGER KRÖGER

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